RacheFürCarlo – 10 Jahre Genua Demo in Berlin 2011

Zum 10 jährigen Todestag von Carlo Guiliani fanden in ganz Europa Gedenk- und Solidaritätsaktionen statt. Von spontanen Demonstrationen über Infoveranstaltungen bis hin zu direkten Aktionen nahmen unterschiedliche politische Gruppen Bezug auf die Proteste gegen den G8 2001 in Genua und den Tod von Carlo.

In Berlin fand unter anderem eine unangenmeldete, aber öffentlich mobilisierte Demonstration statt.

Schon damals wurde sich mit den Hintergründen und Bezügen der Antiglobalisierungsbewegung beschäftigt. Texte, Analysen und Zusammenfassungen finden sich noch immer unter: http://rachefuercarlo.blogsport.de/

Im folgenden möchten wir einen Auswertungstext, der damals auf Indymedia veröffentlicht wurde zitieren:

Dies ist ein vorläufiger Auswertungstext von einigen, die die Demo am 16.Juli in Kreuzberg mit vorbereitet haben.
Der Schuß des Polizeibeamten Kurras auf den Demonstranten Benno Ohnesorg am 2.Juni 1967 in Berlin wurde von der damaligen Protestbewegung als absoluter Tabubruch aufgenommen.
Für die überwiegend jugendliche APO war es bis dahin unvorstellbar, dass die Generation ihrer Väter, die das Hitlerregime militärisch und polizeilich ermöglicht hatte, nun die Waffe auf einen bis dahin friedlichen Widerstand richtete. Der Tod von Ohnesorg wurde vom Staat bewußt symbolisch inszeniert; in aller Öffentlichkeit wurde bei einer Demonstration, die von der Springer Presse zum Abschuß freigegeben war, die Hinrichtung vollstreckt.
Die Bewegung nahm die Kriegserklärung an, die Demonstrationen wurden militanter und Stadtguerillas formierten sich. Eine von diesen Gruppen führte das Datum vom Mord an Ohnesorg im Namen, auch um die Herrschenden zu zwingen immer wieder den Auslöser für den bewaffneten Kampf zu erwähnen.

In den folgenden Jahrzehnten starben in Westeuropa regelmäßig Menschen bei Demonstrationen, jedoch meistens durch Ausraster einzelner Beamter und nicht im politischen Kalkül der jeweiligen Staaten. Diese wollten den Gebrauch von Schusswaffen vermeiden um ihr demokratisches Gesicht gegenüber den Beherrschten nicht zu verlieren.

Die Bewegung, die im Sommer 2001 unter dem Namen „Antiglobalisierung“ ins Rampenlicht geriet, war ebenfalls sehr jung. In vielen Ländern hatte ein Generationswechsel stattgefunden, die meisten Autonomen der 80er Jahre hatten sich ins Privatleben verabschiedet und auch die Depression der 90er war vorbei.
Für diese neue Generation schienen alle Türen offen zustehen, der Kapitalismus anfällig wie kaum zuvor, die Möglichkeiten der internationalen Vernetzung einfacher denn je.
Spätestens nach Seattle und Prag schrillten in den Büros der Sicherheitsbehörden die Alarmglocken.
Nach den Schüssen von Göteburg war die autonome/linksradikale Bewegung, die zu internationalen Gipfeln fuhr nicht vor Angst erstarrt. Im Gegenteil, Genua wurde zum grössten Treffen der Militanten und Friedlichen seit langem.

So war es Berlusconi, der in seinen Medien die DemonstrantInnen dämonisierte und durch seine Carabinieri einen erneuten Tabubruch vollzog. Der Mord an Carlo wurde ähnlich wie der an Ohnesorg öffentlich inszeniert, vor den Kameras der ganzen Welt.
Die Reaktion aus dem radikalen Widerstand und dem liberale/bürgerlichen Lager fiel jedoch anders als 1967 aus.
Zwar war die Öffentlichkeit weitaus schockierter als nach dem Schah Besuch in Berlin, fand jedoch genauso wie die Militanten keine Zeit zur Reaktion nach einem längeren Diskurs:
der 11.September machte die Aufarbeitung von Genua zu einem Nischenprojekt.

Die autonome Bewegung fand keine Linie zum Gedenken an Genua. Zwar gab es immer wieder an Jahrestagen militante Aktionen, die jedoch nicht mehr als ein Katalysator von Hass und Wut für wenige zu sein schienen.

Vor diesem Hintergrund tauchte vor einiger Zeit die Frage nach dem Begehen des 10. Jahrestages auf. Einige Strukturen, die angesprochen wurden reagierten kaum bis verhalten.
Andere hielten ein Konzept für gut, an dem sich viele Menschen beteiligen können.

Der erste Aufruf vom 9.Juni trug die Aufforderung sich selbst mit eigenen Texten und Aktionen zu beteiligen, das Word Rache kam darin nicht vor:
http://rachefuercarlo.blogsport.de/2011/06/09/carlo-giuliani-demo-am-16-juli/#more-4

Ein weiterer Aufruf verzichtet ebenfalls auf Rache, zeigt aber ein entsprechendes Graffiti:
http://rachefuercarlo.blogsport.de/2011/06/09/remember-carlo-giuliani/

Am 19.Juni folgte ein weiterer Aufruf sich selbst, autonom, zu beteiligen:
http://rachefuercarlo.blogsport.de/2011/06/19/neues-zur-genua-demo-am-16-juli/

Autonom entstand auch der Blog, der alle veröffentlichten Texte zusammen stellte. Dieser Blog trägt allerdings das Wort Rache im Namen, das weiterhin auch als Graffiti gesprüht wurde.
In der Vorbereitung der Demo und der entsprechenden Mobilisierung wurden leider nur wenig eigene Initiativen von anderen übernommen. Der Blog wurde von 30 verschiedenen Gruppen verlinkt, die damit den Aufruf unterstützten. Lediglich an dem Begriff der Rache entstand eine Diskussion.
Alle Strukturen, Gruppen und Einzelpersonen hatten ausreichend Gelegenheit die Demonstration oder etwas anderes mit zugestalten und selbstständig dazu (oder dagegen) zu mobilisieren. So haben wir das Konzept der Demo als stillen Konsens aufgefasst.

Die Demonstration verlief aus unserer Sicht sehr erfolgreich. Wir sind mit fast 1000 Menschen zusammen gekommen und wie angekündigt pünktlich vom Lausitzer Platz gestartet.
So schlecht kann die inhaltliche Vermittlung im Vorfeld nicht gewesen sein, denn selten erhielt eine vermummte, autonome Demo in letzter Zeit so viel Zeichen der Zustimmung von AnwohnerInnen und Publikum wie diese.
Leider flogen am Anfang Böller zwischen Passanten und in eigene Reihen, was ein dummes Phänomen der letzten Zeit ist. Welchem Zweck Böller dienen sollte eigentlich bekannt sein.

Die Polizei hatte einerseits die Zugfähigkeit des Themas unterschätzt und wollte anscheinend auch nicht durch ein zu großes Aufgebot die Touris verängstigen. Am Anfang sah es also so aus als würde ausnahmsweise Vernunft bei der Einsatzleitung regieren.
An der Kreuzung Manteuffel/ Skalitzer Straße versuchten jedoch einige Wannen unmotiviert den Aufzug zu stoppen oder die Spitze abzuschneiden. Diese Wannen wurden etwas beworfen und hielten sich danch auch zurück, durch den Gebrauch von Rauchbomben zögerte aber ein grosser Teil der Demo und lief danach als eigene Demo weitgehend unbehelligt Richtung Carlo Giuliani Park.
Die Spitze wurde dann an der Ecke Mariannenstraße erneut angegangen und löste sich in der Reichenberger auf.

Für diesen Fall war ein Plan B angekündigt worden, der anscheinend auch erfolgreich verbreitet wurde. Eine Stunde nach dem Auflösen sammelten sich erneut mehrere hundert Menschen in einem dunklen Teil vom Mariannenplatz und griffen nun die Polizei an, die bei der Verfolgung ehemaliger DemoteinehmerInnen durch den Kiez kurvte.
Überraschend viele Menschen aus Bars und Wohnhäusern sowie Jugendliche griffen in den nächsten Stunden die Polizei in SO 36 an und bauten Barrikaden.
Die Parole „Ganz Berlin hasst die Polizei“ scheint jedenfalls eine gewisse Substanz zu besitzen, so unterschiedlichen Spektren gehörten die Leute an, die eine deutlich sichbare Ablehnung der Polizei demonstrierten.

Als Teil des Konzepts der dezentralen Aktion http://rachefuercarlo.blogsport.de/2011/07/13/dezentrale-aktionen-oder-demo/
wurden später noch Polizeikräfte in der Köpenicker Straße angegriffen und eine Bank am Kotti entglast. Zu unserer Freude gab es die ganze Nacht über keine Aktionen, die falsche Ziele trafen.

Im Anschluß gab es vereinzelt kritische Stimmen, das nur mit einer Fokussierung auf Carlo ein Märtyrerkult betrieben würde und die im übrigen berechtigte Kritik am kapitalistischen System und seinem Auftritt in Genua, nicht rübergebracht worden sei.
Zum ersten: Wir wollten zeigen das wir den Mord an Carlo nicht vergessen werden und wir wollten die Medien dazu zwingen den Anlaß für unseren Protest immer wieder zu erwähnen. Weiterhin wollten wir allen, die das ähnlich sehen, die Möglichkeit geben Wut und Hass beim richtigen Adressaten abzuliefern. Das ist uns gelungen.

Einen tiefrgreifenden Diskurs über alles andere loszutreten war nicht unser Anspruch, wir würden aber vielleicht Initiativen dazu unterstützen.

Als Fazit bleibt festzustellen:
Vor einigen Jahren setzte in Berlin eine Welle von Repression selbst gegen die kleinsten Antifademo ein. Es gab Festnahmen und Hausdurchsuchungen für Springerstiefel auf Demos und für Seitentranspis. Es gab aufs Maul für Sonnenbrille plus Tuch und Vorschriften wo genau es langgehen darf.
Das diese ganze Kooperation mit der Polizei nicht nötig ist und das wir keine Angst haben sollten wenn wir unser Anliegen auf die Strasse tragen, haben wir am Samstag bewiesen.
Das Mittel der Demonstration muss nicht Frust und Langeweile bedeuten. Für das polizeiliche Agieren in urbanen Räumen gibt es Grenzen, die wir ihnen aufzeigen können wenn wir nicht hierarchisch handeln, eben autonom.